Neuer Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer durch eine vermeintilch unscheinbare Gesetzesänderung des SGB IX
Liebe Leserin,
lieber Leser,
im Rahmen einer umfassenden Novelle des Sozialgesetzbuches IX (SGB IX), welche in Großteilen erst zum 01.01.2018 ihre Wirkung entfaltet, hat der Gesetzgeber aber bereits "vorab", mit Wirkung zum 01.01.2017, einige inhaltliche Anpassungen des SGB IX vorgenommen. Aus diesem aktuellen Anlass möchten wir Sie über die wichtigsten Punkte der Änderung informieren.
Besonders bedeutsam ist der neu hinzugekommene Satz 3 bei § 95 Abs. 2 SGB IX, welcher nun (verkürzt) wie folgt lautet:
"§ 95 Abs. 2 S. 3
Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ausspricht, ist unwirksam."
Zwar war der Arbeitgeber bislang schon verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung bei allen Maßnahmen, die einen schwerbehinderten Menschen berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung zu beteiligen. Dazu gehörte selbstverständlich auch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Jedoch war das Unterlassen der Beteiligung insoweit sanktionslos, als sie ohne Einfluss auf die Wirksamkeit der Kündigung blieb. Davon abhängig begeht der Arbeitgeber, wie im alten Recht auch, durch das Unterlassen der Beteiligung eine Ordnungswidrigkeit.
§ 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX zieht nunmehr eine umfassende Rechstfolge nach sich. Hatte § 95 Abs. 2 S. 2 SGB IX bisher noch vorgesehen, dass eine nachträgliche Durchführung der Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vorgenommen werden kann und bis dahin schlicht eine vorläufige Aussetzung der Maßnahme stattfindet, ist dies nun mit dem neu eingefügten Satz 3 jedenfalls dann hinfällig geworen, wenn dem Arbeitnehmer die Kündigung bereits zugegangen ist. Die Kündigung ist sodann unheilbar nichtig.
Die Beteiligungspflicht der Schwerbehindertenvertretung erstreckt sich mithin auf jede Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers. Sie greift auch dann, wenn die Kündigung eigentlich nicht der Zustimmung des Integrationsamtes bedarf. Die Änderung hat daher insbesondere Auswirkung auf die Arbeitsverhältnisse, welche bei Zugang der Kündigung noch keine sechs Monate bestanden. Diese unterfallen nämlich nicht dem Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes, jedoch der Beteiligungspflicht der Schwerbehindertenvertretung.
Die Begründung hierfür findet sich in der Rechtsprechungdes Bundesarbeitsgerichts, welches aus den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen der Verwirkung und der unzulässigen Rechtsausübung ableitet, dass es Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung ist, schwerbehinderten Menschen beratend und helfend bei ihrer Eingliederung in das Berufsleben zur Seite zu stehen. Das könne nicht davon abhängen, ob das Arbeitsverhältnis schon so lange besteht, dass der Arbeitnehmer bereits einen vertieften Kündigungsschutz genießt.
Nach Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung über die bevorstehende Kündigung hat der Arbeitgeber dieser Gelegenheitn zur Stellungnahme zu geben. Die inhaltliche Ausgestaltung der Unterrichtspflicht ist noch nicht abschließend geklärt. Eine Anhörung, die in Inhalt und Umfang der Anhörungspflicht des Betriebsrates entspricht, sollte aber den Anforderungen der Unterrichtungspflicht der Schwerbehindertenvertretung genügen. Ungeklärt ist auch, welche Fristen bei der Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung anzuwenden sind. In Betracht kommt hier eine entsprechende Anwendung der Fristen über die Betriebsanhörung.
In jedem Fall ist das Anhörungsverfahren vor Einreichung des Zustimmungsantrages für das Integrationsamt durchzuführen. Wird der Antrag ohne erfolgter Anhörung gestellt, hat das Integrationsamt ihn zurückzuweisen. Spricht der Arbeitgeber ungeachtet dessen eine Kündigung aus, ist diese nicht wirksam. Hingegen kann der Arbeitgeber Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung in beliebiger Reihenfolge nacheinander aber auch parallel zueinander anhören. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch darauf, dass zum Zeitpunkt seiner Anhörung bereits eine Stellungnahme der Vertretung vorliegt.
Eine Ausnahme des zwingenden Beteiligungserfordernisses besteht nur:
- wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht kannte, diese nicht offensichtlich war und der Arbeitnehmer ihm diese auch nicht in angemessener Frist nach Zugang der Kündigung - in aller Regel innerhalb von drei Tagen - noch nachträglich mitgeteilt hat; oder
- wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach einem sechsmonatigen Bestand des Arbeitsverhältnisses gefragt hatte, ob dieser schwerbehindert ist und dieser die Frage wahrheitswidrig verneinte; oder
- wenn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch kein Anerkennungs- bzw. Gleichstellungsbescheid vorgelegen hat, es sei denn, die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers wäre offensichtlich oder der Arbeitnehmer hat wenigstens drei Wochen vor dem Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung gestellt, dem später mit Rückwirkung entsprochen wird.
Praxistipp
Auch wenn der Informationsumfang der Unterrichtungspflicht der Schwerbehindertenvertretung noch nicht abschließend geklärt ist, empfiehlt sich eine umfassende Unterrichtung schon deshalb, weil dem Arbeitgeber ansonsten in einem späteren Kündigungsschutzprozess möglicherweise sonst doch noch vorgehalten werden könnte, dass die Schwerbehindertenvertretung ohne genaue Kenntnis dieses oder jenes Umstands nicht sicher habe abschätzen können, ob die Kündigung in einem Zusammenhang mit der Schwerbehinderung steht. Daher sollte der Arbeitgeber der Schwerbehindertenvertretung und dem Betriebsrat dieselben Informationen zukommen lassen.
Darüber hinaus sind durch die Novelle zum 01.01.2017 auch die Rechte der Vertrauenspersonen schwerbehinderter Menschen gestärkt worden. Beispielsweise ist die Vertrauensperspon auf ihren Wunsch bereits ab 100 Arbeitnehmern im Betrieb von ihrer Arbeitspflicht freizustellen, ohne dass es hierzu weiterer Voraussetzungen bedarf.
Gerne unterstützen wir Sie bei Fragen zu den geplanten und bereits eingetretenen Veränderungen aufgrund der Novelle des Sozialgesetzbuches IX.
Mit besten Grüßen aus Heidelberg
Ihr Arbeitsrechtsteam
Tiefenbacher